«Das Schönste ist das Gefühl der Freiheit»

20. Mai 2021

Jenische und Sinti und ihre fahrende Lebensweise gehören zur Schweizer Kultur. Trotzdem müssen sie gegen Vorurteile kämpfen. Und haben immer noch zu wenig Lebensraum.

Blick

Es ist windig im Industrieviertel von Chur GR und es ist laut. Der Kiesplatz mit dem knappen Dutzend Wohnwagen liegt eingeklemmt zwischen der Autobahn und der gut befahrenen Transitstrasse. Am Campingtisch unter einem Vorzelt sitzt Alfred Werro (62).

Werro, genannt Popi, ist ein Schweizer Jenischer. Er wurde im Holzwohnwagen geboren und war immer «auf der Reise» – vom Frühjahr bis zum Herbst fährt seine Familie im Caravan durchs Land. Bis heute.

In der Schweiz leben zwischen 30'000 und 35'000 Jenische und einige Hundert Sinti. Seit 1997 sind sie als nationale Minderheiten anerkannt, über die man allerdings kaum etwas weiss.

Berufstätige Schweizer

«Die meisten wissen nicht viel über Fahrende und wenn, setzen sie alle mit den Roma gleich», so Werro. «Aber es gibt auch Schweizer Fahrende wie uns, und die kennt keiner.»

Sie gehen einem Beruf nach und zahlen Steuern, nur leben sie nicht sesshaft, sondern nomadisch. «Das Schönste an der Reise ist das Gefühl der Freiheit», sagt Werro. «Ich stehe am Morgen auf und die Schweiz liegt mir zu Füssen.»

Nicht alle Jenischen und Sinti leben im Wohnwagen. Nur 2000 bis 3000 machen sich jedes Jahr auf die Reise. Nach wie vor fehlt es an Halteplätzen. Das zeigt der Standbericht 2021, den die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende am Donnerstag veröffentlicht hat. Schweizweit fehlen demnach 20 bis 30 Stand- und rund 50 Durchgangsplätze, damit Schweizer Fahrende ihre traditionelle Lebensweise pflegen können. Werro: «Es ist schlimm, wenn man mit der ganzen Familie auf der Strasse unterwegs ist und nicht weiss, wo man schlafen kann.» Dass weitere Plätze für Fahrende gebraucht werden, ist unbestritten. Doch die Umsetzung stockt: Freie Flächen in den Agglomerationen sind begehrt, die Bedürfnisse der fahrenden Minderheit werden häufig als Letztes berücksichtigt.

Plätze, wo niemand wohnen möchte

Den wenigen Flächen, die es gibt, sieht man das an. «Halteplätze finden sich oft dort, wo Sesshafte nicht wohnen wollen», sagt Christoph Neuhaus (55). Der Berner Regierungsrat präsidiert die Fahrenden-Stiftung. Was er damit meint: Die Plätze liegen oft neben Müllhalden, im trostlosen Industriegebiet oder – wie in Chur GR – direkt neben der Autobahn.Werro gefällt der Platz trotzdem, auf dem er mit seiner Gruppe haltmacht. Es war schwierig genug, überhaupt einen zu finden.

Den Kampf um einen Schlafplatz kennt auch Venanz Nobel (65). Sein Vater war eines der jenischen «Kinder der Landstrasse», welche Pro Juventute in den 1920er-Jahren ihren Eltern entrissen und in Heime oder Pflegefamilien gesteckt hatte. Anders als Werro ist Nobel nicht im Wohnwagen aufgewachsen. Erst als Erwachsener zog er durch die Schweiz – 20 Jahre lang.

Neben dem Mangel an Halteplätzen hält Nobel auch deren Verwaltung für problematisch: Meist ist dafür die örtliche Polizei zuständig – und nicht, wie bei Sesshaften, das Liegenschaftsamt. «Ich sehe nicht ein, warum die Wohnsituation der Fahrenden durch die Polizei geregelt werden soll», so Nobel. «Deren Aufgabe ist es, Recht durchzusetzen, Leute zu kontrollieren. Das spiegelt sich oft im Umgang mit den Fahrenden.»

Vorurteile und Diskriminierung

Zudem mache es auf Anwohner häufig einen falschen Eindruck: «Wenn die Leute sehen, dass ständig die Polizei vorfährt, meinen sie, da gehe etwas Kriminelles vor. Dabei ist es nur das Standardprozedere.»Vorurteile führen schnell zu Diskriminierung. Nobel hat das am eigenen Leib erfahren. Nach zwei Jahrzehnten auf der Strasse entschied er sich, wieder sesshaft zu werden. Unter anderem, weil ihm ein Beamter in Basel sagte, es gebe keinen freien Standplatz.Als sich Nobel daraufhin für eine Wohnung bewarb, die der Stadt gehörte, sagte ihm der gleiche Beamte: «Solange ich auf diesem Stuhl sitze, bekommen Sie in Basel gar nichts.» Erst als Nobel sich mithilfe befreundeter Anwälte wehrte, durfte er die Wohnung beziehen.Während der Corona-Pandemie blühen Abneigung und Misstrauen wieder auf. Hausieren, die Beschäftigung vieler Fahrender, war plötzlich verboten – oder ihnen wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen. Viele hatten Mühe, über die Runden zu kommen.

Mehr Aufklärungsarbeit ist notwendig

Eine Befragung des Bundes fand letztes Jahr heraus, dass viele Schweizer die Begriffe Jenische und Sinti nicht kennen. Das müsste schon in der Schule gelehrt werden, findet Nobel, denn Voreingenommenheit entsteht aus Nichtwissen: «Wenn man wirklich etwas gegen Vorurteile tun will, muss man bei den Kindern anfangen.» Solange das Wissen über Jenische und Sinti nicht in der obligatorischen Staatsschule vermittelt werde, sei das Versprechen des Bundes, die Minderheiten zu fördern, nur ein Lippenbekenntnis.Eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortet die Unterstützung von fahrenden Minderheiten. Laut Befragungen des Bundes finden über 50 Prozent, dass man mehr für die Jenischen und Sinti tun sollte. In erster Linie heisst das: mehr Plätze zur Verfügung stellen. Dann könnten sich auch wieder mehr junge Jenische und Sinti auf die Reise machen. Werro und Nobel würde das freuen. Denn nur so bleibt ihre Kultur erhalten.