«Lex Fahrende» im Kanton Bern: Rechtsprofessor Rainer J. Schweizer kritisierte den Wegweisungsartikel. Was das Bundesgerichtsurteil über den Rechtsstaat aussagt, erklärt der 77-Jährige im Interview.
Chantal Desbiolles, Berner Zeitung BZ
Rainer J. Schweizer, Sie haben zur «Lex Fahrende» ein Rechtsgutachten verfasst und sind vor zwei Jahren schon zum selben Schluss gekommen wie nun das Bundesgericht: Der Wegweisungsartikel verletzt den Minderheitenschutz sowie das Diskriminierungsverbot und ignoriert die von der Schweiz den Fahrenden zugestandenen Rechte. Erfüllt Sie dieses Urteil mit Befriedigung?
Ich freue mich, dass dieses Urteil ergangen ist, weil es endlich den Weg öffnet für einen anderen Umgang mit der kleinen Minderheit von Jenischen, Sinti und Manusch. Diese Gruppen gehören zu einer alten angestammten Minderheit der Schweiz. Von etwa 30’000 sind es knapp 500 Menschen, die diese Fahrgewohnheiten noch pflegen. Ich finde es schlimm, dass unser reiches Land nicht einmal die Hälfte des benötigten Platzes bereitstellen kann. Mir ist wichtig, dass man sich bewusst ist, dass es sich um einen autochthonen Teil der Schweizer Bevölkerung handelt, mit einer weit entwickelten Kultur und Sprache.
Was sagen Sie zum Entscheid des Bundesgerichts an sich?
Es ist richtig so. Sowohl im Neuenburger Gesetz als auch in den Artikeln des Berner Polizeigesetzes werden gegenüber einer kleinen Gruppe von Menschen schärfere Regeln angewendet als gegenüber anderen Schweizern. Das ist, als würden wir Neuenburger oder Zürcher, die irgendwo campen, anders behandeln als alle anderen Kantonsangehörige. Das ist undenkbar! Diese scharfen Gesetze haben ein Vorverständnis der fahrenden Lebensform, die nicht zutrifft. Sie sind diskriminierend und rassistisch.
Um ein Beispiel zu nennen: Würden diese Gruppen statt in Wohnwagen als Mieter in einem öffentlichen Gebäude in Kantonsbesitz leben, würden auch für sie die umfassenden Mieterschutzbestimmungen gelten. Der Kanton Neuenburg ist der Ansicht, diese Lebensform habe nichts mit Wohnen zu tun, das muss man sich mal vorstellen. Die Betrachtungsweise und die Mentalität dahinter sind entscheidend für die unzulässigen Sondereinschränkungen.
Der Wegweisungsartikel wurde in das Polizeigesetz integriert, dieses Gesetz an der Urne angenommen. Was sagt das über unseren Rechtsstaat aus?
Wir haben unsere Demokratie, die fantastisch ist, gleichsam überhöht und ihr einen Vorrang vor allem anderen gegebenDas ist ein grosses Problem. Denn auch die Demokratie muss sich in die Verfassung und die Völkerrechtsordnung einordnen. Auf Kantonsebene ist das besser organisiert, weil das Bundesgericht das letzte Wort haben kann. Weil auf Bundesebene diese Kontrolle fehlt, werden deswegen wissentlich falsche Gesetze erlassen. Was die Behandlung der fahrenden Bevölkerungen angeht, so reden wir von einem europäischen Menschenrechtsproblem. Der Europarat hat sich damit immer wieder befasst und kritisiert dieses Verhalten. Die Schweiz wurde immer wieder aufgefordert, etwas zu tun. Wir gliedern uns immer noch ein in eine Reihe mit Staaten, die diese Bevölkerung verfolgt.
Doch es wurde über diesen Artikel abgestimmt.Aus dieser Abstimmung kann man nicht herauslesen, dass der Artikel legitimiert wurde durch das Stimmvolk, denn in der Abstimmung ging es um das ganze Gesetz.
Sprechen wir über Glaubwürdigkeit. Die Gesetzgebung verliert doch das Vertrauen der Bürger, wenn Justizia eingreifen muss?
Das ist tatsächlich so. Es herrscht einerseits noch immer die Meinung, die Politik käme von der Justiz. Gerade im Sicherheitsbereich und bei finanziellen Entscheiden wollen sich Mitglieder der Justiz oft nicht weit aus dem Fenster lehnen.Manchmal herrscht eine Willfährigkeit dem gegenüber, was von der Politik gewünscht wird. Andererseits höre ich Menschen, die sagen: Gott sei Dank gibt es noch Richter, die den Rechtsstaat schützen. Ich bin überzeugt, dass ein Gericht letztlich mit solchen Entscheiden mehr Respekt gewinnt, als wenn es politische Anliegen durchwinkt. Das Berner Polizeigesetz ist eigentlich ein sehr gutes Gesetz, ein echter Fortschritt im Polizeirecht. Die Schaffung neuer Plätze war Bedingung dafür, dass die «Lex Fahrende» nicht mit Grundrechten kollidiert.Zum Transitplatz in Wileroltigen hat die bernische Stimmbevölkerung im Februar Ja gesagt. Kann man denn jetzt im Umkehrschluss damit argumentieren, dass dieser Platz nach einem solchen Artikel verlangt hätte?
Nein, eben nicht. Weil es keinen Grund gibt für die öffentliche unzulässige Diskriminierung von Menschen, die fahrend leben. In Neuenburg zahlt jemand für unerlaubtes Campen eine kleine Busse. Wenn es Jenische sind, erhalten sie eine hohe Verwaltungsstrafe und Strafanzeige.Bund und die Kantone sind im Gegenteil nach Verfassungs- und Völkerrecht geradezu verpflichtet, Standplätze zu schaffen. Polizeirechtliche Massnahmen haben wir genug, wenn es zum Beispiel um Littering geht.
Zur Person: Es war das Gutachten des geachteten Rechtsprofessors, der die Befürworter der «Lex Fahrende» im Grossen Rat vor zwei Jahren Wind aus den Segeln nahm. Eine bürgerliche Mehrheit verabschiedete den Passus zur Wegweisung von Fahrenden innert 24 Stunden dennoch. Der Freisinnige Rainer J. Schweizer ist emeritierter Rechtsprofessor der Universität St.Gallen und gilt als Koryphäe in Sachen Öffentliches Recht. Damit gerechnet, dass das Bundesgericht seine damalige Einschätzung weitgehend teilt, habe er nicht, sagt der 77-Jährige. Das konnte er auch nicht, nachdem die oberste Rechtsinstanz vor zwei Jahren eine entsprechende Beschwerde gegen das Neuenburger Gesetz vom Tisch gewischt hatte. Auch hier ging es unter anderem darum, dass die Polizei fahrende Gemeinschaften sofort wegweisen darf, auch wenn keine Alternative bereitgestellt wird, (cd)
SVP spricht von «falschen Voraussetzungen» Dass das Bundesgericht vier Artikel aus dem Berner Polizeigesetz gestrichen hat, darunter die «Lex Fahrende», ist eine Steilvorlage für die SVP Kanton Bern. Sie spekuliert, dass die Abstimmung zum Transitplatz in Wileroltigen vor dem aktuellen Urteil anders ausgegangen wäre.Im Februar hatte eine knappe Mehrheit der Berner Stimmbevölkerung den 3,3-Millionen-Kredit für einen Transitplatz für ausländische Fahrende an der Autobahn Bern-Murten befürwortet. Die Partei will nun prüfen, wie dieser Volksentscheid auf parlamentarischem Weg korrigiert werden könne. Sie macht dafür «falsche Voraussetzungen» geltend: Dem Platz sei zugestimmt worden im Vertrauen auf einen Wegweisungsartikel, den es nun nicht mehr gibt. Damit müssten andere Gemeinden weiterhin illegale Landnahmen fürchten, (cd).