Die Kinderdiebe der Pro Juventute

31. Marzo 2022

Pro Juventute hat jenischen Eltern systematisch die Kinder geraubt. Diesen Skandal deckte vor 50 Jahren Hans Caprez im Beobachter auf. Noch immer ist nicht alles aufgearbeitet.

Beobachter/Yves Demuth

Veröffentlicht am 31. März 2022 - 18:32 Uhr«Die ganze brave Schweiz dachte, mein Bericht müsse falsch sein», erzählt Hans Caprez. «Die ehrwürdige Pro Juventute würde doch so etwas nicht machen.»Seine Recherche über jenische Kinder, die am 15. April 1972 im Beobachter erschien, hatte Konsequenzen. Tausende kündigten ihr Abo. Hans Caprez war damals 32, erst seit einem Jahr beim «Schweizerischen Beobachter», und mitten in einem Sturm der Entrüstung. Was heute als Glanzstück des Schweizer Journalismus gilt, bescherte ihm auch einen Termin beim Beobachter-Verleger. Max Ras junior stärkte mir aber den Rücken.

Der Artikel «Fahrende Mütter klagen an» (Anm. d. Red.: Diesen Artikel finden Sie in unserem digitalen Dossier am Artikelende.) stellte eine Schweizer Institution an den Pranger, die bis dahin über jeden Zweifel erhaben schien: die Pro Juventute. Ihr Verhalten sei «weder juristisch noch menschlich haltbar», schrieb Caprez. Pro Juventute habe zwei jenischen Müttern die Kinder weggenommen, sie mit einer jahrzehntelangen Kontaktsperre belegt und so den Eltern entfremdet, obwohl nichts gegen sie vorlag. Der einzige Grund dafür: Sie waren Jenische.

Caprez schrieb: «Die radikale Trennung von Mutter und Kind im frühen Kindesalter kann später zu schwersten Störungen und Erziehungsschwierigkeiten führen.» Pro Juventute empfand das als Affront. Die Stiftung, präsidiert von einem Bundesrat, sah sich als Verkörperung des Guten. Mitarbeiter sprachen von «Schauergeschichten» des Beobachters.

Dass es falsch sein sollte, jenischen Familien systematisch die Kinder wegzunehmen, leuchtete den Verantwortlichen nicht ein. Die Pro Juventute hatte selbst sesshaften Familien mit jenischem Nachnamen die Kinder weggenommen. «Ein rassistisches Programm», sagt Hans Caprez. Um es zu stoppen, schrieb er weiter, etwa den Artikel «Die Tragödie von Pro Juventute».

Die Stiftung blieb unbeeindruckt. Im Oktober 1972, ein halbes Jahr nach der ersten Enthüllung, gestand sie lediglich ein, man habe «neben positiven Leistungen auch Fehler» gemacht. Der Druck der Öffentlichkeit stieg jedoch weiter. 1973 musste Pro Juventute ihr «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» schliessen. Der Beobachter titelte: «Kritisierte Abteilung aufgelöst!»

586 jenische Kinder den Eltern entrissen

Dabei hatte Hans Caprez damals erst die Spitze des Skandals freigelegt. Über 20 Jahre lang noch sollte ihn das Thema beschäftigen. Dass die Schweiz eine Politik der Ausrottung der jenischen Kultur betrieb, wurde erst klar, als die Akten der Pro Juventute öffentlich zugänglich gemacht und erforscht wurden.Bundespräsident Alphons Egli entschuldigte sich 1986 für das Verhalten der Schweiz. Der Stiftungsratspräsident der Pro Juventute, der ehemalige Bundesrat Rudolf Friedrich, weigerte sich auch damals noch, das Wort «Entschuldigung» auch nur in den Mund zu nehmen. Er warf Hans Caprez «teilweise unsachliche Angriffe» vor.Betroffene erhielten später vom Bund als individuelle Opferentschädigung bis zu 20'000 Franken. Im Rahmen der Wiedergutmachung für administrativ Versorgte und Fremdplatzierte können sie bis heute weitere 25'000 Franken als «Solidaritätsbeitrag» beantragen.Inzwischen ist auch das Ausmass der Kindeswegnahmen klar: Pro Juventute entriss zwischen 1926 und 1973 mit Hilfe der Behörden 586 jenische Kinder ihren Eltern. Das stellt die Historikerin Sara Galle in ihrer Doktorarbeit von 2016 fest. Weitere 92 jenische Kinder wurden in dieser Zeit durch die katholische Schwesterngemeinschaft Seraphisches Liebeswerk betreut.

Pro-Juventute-Gründer mit ausgeprägten pädophilen Neigungen

Gegründet hat das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute Alfred Siegfried, ein ehemaliger Lehrer mit ausgeprägten pädophilen Neigungen. Das Basler Strafgericht verurteilte ihn im Alter von 34 Jahren wegen «Vornahme unzüchtiger Handlungen mit einem Schüler». Vor Gericht sagte Siegfried, er habe seit seinem 20. Geburtstag die Neigung verspürt, mit Buben zusammen zu sein.

Das Humanistische Gymnasium Basel griff in der Folge durch. Es entliess Siegfried wegen wiederholter gegenseitiger Onanie mit einem Zwölfjährigen aus seiner eigenen Klasse, wie die «Basler Zeitung» 1998 aufdeckte. Nach aussen jedoch vertuschte die schulische Aufsichtskommission den Fall: «Über die Angelegenheit soll Stillschweigen bewahrt werden.»

Pro Juventute wusste von diesem Schuldspruch offenbar nichts. Das Hilfswerk machte den Sexualstraftäter Siegfried zum Leiter der Abteilung Schulkind und liess ihm freie Hand. Siegfried machte sich in den nächsten 30 Jahren zum Beistand und Vormund von 499 jenischen Kindern. Immer wieder brachte er Kinder mit nach Hause zu seiner eigenen Familie oder nahm sie in die Ferien mit.

Rassistischer Hintergrund

Mehrere dieser Kinder sagten später in einem Buch des Historikers Thomas Huonker aus, sie seien von Siegfried sexuell missbraucht worden. Die Auswertung von Akten durch das Bundesarchiv von 1998 thematisierte diese Aussagen ebenfalls. Eine Untersuchung gab es aber nie. Alfred Siegfried war 1972 als Wohltäter zu Grabe getragen worden – nur wenige Wochen vor dem ersten Artikel von Beobachter-Redaktor Hans Caprez.

Siegfrieds Rassismus prägte das «Hilfswerk». Er bezeichnete Fahrende als «unerfreuliche Zeitgenossen», als «Plage», «asoziale Menschen» mit «amoralischer Lebensweise». «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen», sagte er 1943 mitten im Weltkrieg an einem Vortrag in Zürich.

Siegfrieds Ziel: ausnahmslos allen «Vagantenfamilien» der Schweiz die Kinder wegzunehmen. Die Liebe der jenischen Mütter zu ihren Kindern war für Siegfried «sehr primitiv, um nicht zu sagen animalisch»; seine Mitarbeiterin Clara Reust sprach 1960 gar von «Affenliebe».

Die entrissenen Kinder platzierte die Pro Juventute in Heimen, Arbeitsanstalten, psychiatrischen Kliniken und Pflegefamilien. «Viele wurden später als billige Arbeitskräfte in Haushalte und auf landwirtschaftliche Betriebe verdingt. Ein hoher Prozentsatz dieser Kinder erhielt keine ordentliche Schulbildung», schreibt Historikerin Sara Galle. 20 jenische Mädchen schickte Pro Juventute ins Marienheim nach Dietfurt SG. Dort mussten sie Zwangsarbeit in einer Spinnerei Akte Bührle Zwangsarbeit in der Spinnerei leisten, die ab 1941 dem Waffenfabrikanten und Kunstsammler Emil G. Bührle gehörte.

Traumatisiert

Ursula Waser war eines von Alfred Siegfrieds Mündeln. Gesehen hat sie ihn nur zweimal, als kleines Kind. Doch präsent sind seine Taten bis heute. «Jetzt, mit 69, habe ich Angst, dass ich wieder in ein Heim muss. Darum bin ich bei Exit», sagt Waser. Sie würde sich lieber das Leben nehmen, als erneut in ein Heim zu gehen.

Bei der Aufarbeitung und der symbolischen Entschädigung habe die Schweiz vieles richtig gemacht, sagt Ursula Waser. Doch das Bewusstsein über das Unrecht sei nur wenig entwickelt. «Die Pro Juventute hat damals zusammen mit den Fürsorgeämtern ein Verbrechen verübt.» Diese Einschätzung teilen Sachverständige wie die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus von der Universität Neuenburg.

«Uns Heimkindern hat niemand geglaubt, wenn wir ausgesagt haben.» Ursula Waser, von der Pro Juventute den Eltern entrissen

Untersucht werden müsse auch die Rolle der Justiz, sagt Ursula Waser. So hatte Bundesrichter Carlo Pometta 1962 von sich aus bei der Pro Juventute angerufen, um zu verhindern, dass eine jenische Mutter die Adresse ihrer Kinder erfuhr, wenn sie im hängigen Bundesgerichtsfall Einsicht in die Akten erhielt. Das zeigt ein Dokument aus dem Bundesarchiv.

Richter hätten den Kinderraub geschützt und sogar dann weggeschaut, wenn jenische Kinder vergewaltigt wurden, sagt Ursula Waser. «Das habe ich selbst erlebt, als ich ein Strafverfahren gegen meinen Stiefvater anstrengte, der mich missbrauchte.» Das Kantonsgericht St. Gallen hat ihn 1968 nach dem Prinzip «im Zweifel für den Angeklagten» freigesprochen und sie eines lügenhaften Charakters bezichtigt.

Das Gericht hielt es sogar für angezeigt, «das Mädchen psychiatrisch untersuchen zu lassen», schreibt Historikerin Sara Galle in ihrer unveröffentlichten Lizentiatsarbeit. Teile des Verfahrens seien «tendenziös» gewesen.

«Uns Heimkindern hat niemand geglaubt, wenn wir ausgesagt haben», so Ursula Waser. Als sie 1989 ihre Akten zum ersten Mal zu Gesicht bekam, brach sie zusammen. «Ich verlor jedes Selbstwertgefühl. Schon als Fünfjährige stellten sie mich als krankhafte Lügnerin dar. Meine beiden Töchter haben einen hohen Preis bezahlt für meine Vergangenheit. Ich musste die jüngere Tochter nach der Akteneinsicht vorübergehend weggeben – zu ihrem Schutz.»

Heute verurteilt die Pro Juventute den Kinderraub. Sie entschuldigte sich und hat immer wieder Geld für Jenische gesprochen. Ursula Waser engagiert sich heute als Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische gegen das Vergessen. Sie will ihre Akten nun auf Instagram veröffentlichen. «Um zu zeigen, was die Behörden früher mit uns gemacht haben.» Auch das Gedicht, das sie mit 15 Jahren geschrieben hat und das so endet:

Immer nur fühl ich, ich bin verloren,
ach wär ich nie, nie geboren.

Der Beobachter hat ein Dossier mit elf Artikeln zur Aktion "Kinder der Landstrasse" zusammengestellt.