Text: Andréa Kaufmann
Jenische Familien waren geprägt von der fahrenden Lebensweise und den staatlichen Massnahmen dagegen. Die Familien organisierten sich in flexiblen Beziehungsnetzen und hielten zugleich eng zusammen. In diese Gemeinschaften waren auch die Kinder eingebunden.
Die Fahrenden lebten im 19. Jahrhundert in zeitlich und räumlich begrenzten Personenverbänden. Die «fahrende familiale Gemeinschaft» (Meier/Wolfensberger: Heimat) orientierte sich an verwandtschaftlichen Strukturen, war aber gleichzeitig anpassungsfähig und durchlässig. So nahmen Familien zum Beispiel Kinder von Verwandten oder Bekannten auf, oder Geschwister schlossen sich temporär zu einer Gemeinschaft zusammen. Gegen diese Lebensweise ging die bürgerlich-sesshafte Gesellschaft nach 1850 mit staatlichen Massnahmen vor. Man verbot den Fahrenden etwa das Mitführen von Kindern beim Hausieren und nahm ihnen diese zum Teil sogar weg, um sie zu versorgen und zu erziehen. Der zunehmende Druck hatte zur Folge, dass sich die Jenischen vermehrt abschotteten. Im 20. Jahrhundert setzten Institutionen wie die Pro Juventute oder das Seraphische Liebeswerk die Kindswegnahmen fort. Damit bedrohten sie die Familie als einen Ort, der für die Jenischen Identität bedeutete und wo sie ihre Kultur pflegten.
Aufgrund ihrer Lebensweise bewegten sich die Fahrenden am Rand der Gesellschaft. Sie lebten eher zurückgezogen und unterhielten enge verwandtschaftliche Beziehungen untereinander. Dabei war die Abstammung weniger wichtig als die Möglichkeit, je nach Situation verschiedene Beziehungsnetze – auch ausserhalb der Familie – zu nutzen. Dieses variable Verwandtschaftssystem diente dem Informationsaustausch, bot aber auch Rückhalt und Schutz und war somit für das Überleben auf der Strasse entscheidend. Die Jenischen waren sich sehr verbunden, weshalb sie sich teilweise mit Onkel oder Cousine ansprachen, ohne miteinander verwandt zu sein. Zugleich kannten sie sich in ihrer weit verzweigten Verwandtschaft bestens aus, was folgende Zusammenfassung eines Gesprächs mit einer jenischen Frau zeigt: «Mehrmals erzählt sie, welche jenischen Musikerinnen und Musiker mit ihr verwandt seien. Sie hat eine genaue Vorstellung davon, welche Familien jenisch sind und wie sie miteinander verwandt sind.» (Kaufmann)
Der Zusammenhalt in jenischen Familien verstärkte sich durch den Druck der sesshaften Bevölkerung im 19. Jahrhundert. Die Fahrenden unterstützten sich gegenseitig, fanden Unterschlupf bei Bekannten und hielten sich auf denselben Lagerplätzen auf. Zudem pflegten sie eine gemeinsame Sprache. Das Zusammengehörigkeitsgefühl drückte sich auch in der Wertschätzung der älteren Generation und in der Gastfreundschaft aus, wie sich eine 1921 geborene Jenische erinnerte: «Wir waren oft viele beieinander, aber wir kamen aus. Die Familie, das sind viele, die Verwandtschaft, alle gehören zusammen.» (Schwager) Solche Gemeinschaften waren im 20. Jahrhundert gefährdet, als Behörden und die Pro Juventute fahrende Familien auseinanderrissen. In der Gegenwart bedeutet der familiäre Zusammenhalt jüngeren Jenischen viel. So erklärt eine 21-Jährige in einem Dokumentarfilm von 2010: «Ich bin ein Familienmensch. […] Immer wieder muss ich meine Familie treffen.» (Arn/Rieder)
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten viele Fahrende keine Heiratserlaubnis, weil sie heimat- und besitzlos waren. Sie lebten darum im Konkubinat zusammen oder heirateten im Tessin und im Vatikan (Römer- oder Rom-Ehen). Diese Formen des Zusammenlebens wiederum anerkannten die Behörden nicht, weshalb sie die Jenischen an der Einbürgerung hinderten oder ihnen das Bürgerrecht entzogen. Die Kinder aus solchen Verbindungen galten als illegitim; für die Fahrenden hingegen waren uneheliche Kinder und Partnerschaften alltäglich. Mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 trat dann das Recht auf freie Eheschliessung in Kraft; das Konkubinat blieb in einigen Kantonen bis in die 1970er-Jahre verboten. Heute heiraten viele Fahrende relativ jung, obwohl auch Paare, die ohne Trauschein zusammen leben, als «Mann und Frau» gelten. Verändert haben sich ferner die Geschlechterrollen.
Jenische hatten in der Wahrnehmung der Sesshaften viele Kinder. Wenn mehrere Familien zusammen reisten, konnte nämlich der Eindruck einer grossen Kinderzahl entstehen. Indessen hatten sesshafte Familien auf dem Land häufig selbst mehr als vier Kinder. Im Vergleich waren fahrende Frauen im 19. Jahrhundert bei ihrer ersten Geburt jedoch jünger und bekamen ihre Kinder in regelmässigeren Abständen. Das Leben im Freien führte allerdings zu einer hohen Sterblichkeit, wobei Neugeborene und ihre Mütter besonders im Winter gefährdet waren. Für die Taufe ihrer Kinder wichen Heimatlose – bis zur Einführung der zivilen Register 1874 – auf katholische Kirchgemeinden aus, welche die für den Eintrag in die Taufregister benötigten Ausweise und Schriften weniger streng kontrollierten. Auch aus diesem Grund gehörte die Mehrheit der Jenischen der katholischen Konfession an. Unter heutigen Jenischen gibt es erneut einen Trend zur frühen Elternschaft, und man ist stolz darauf, eine grosse Familie zu haben.
Die Kindheit von Fahrenden war bestimmt vom Leben auf der Strasse. Die Kinder waren eingebunden in die fahrende Wirtschaftsweise: Die älteren hüteten die jüngeren, halfen den Erwachsenen bei Reparaturarbeiten oder beim Hausieren. Nötigenfalls waren die Kinder in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Handwerkliche Fertigkeiten brachten ihnen Verwandte und Bekannte bei. So wuchsen die Kinder in einem Beziehungsnetz auf, das über die Familie hinausging. Diese Art der Sozialisation bekämpfte die bürgerlich-sesshafte Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert, etwa mit der Schulpflicht, was die Familien zu einer vorwiegend sesshaften Lebensweise zwang. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts fand man zwar Lösungen für den Schulunterricht, die Ausbildung bleibt aber ein Thema. Auch die Folgen der Aktion «Kinder der Landstrasse» beschäftigen die Familien weiterhin.