«Steinzeit» von Mariella Mehr
Der Roman «Steinzeit» von Mariella Mehr erschien 1981 und erlebte bis 1990 sieben Auflagen: «Dieses buch ist allen ungeliebten babies gewidmet, allen heimkindern, allen anstaltszöglingen allen an unserer gesellschaft ver-rückt gewordenen, allen stummgewordenen und all jenen, die wissen, dass nur liebe unsere zukunft rettet.»

Literarische Selbstzeugnisse

Text: Corina Caduff

Vor allem Jenische, die im Zuge der Aktion «Kinder der Landstrasse» ihrer Familie und Herkunft beraubt wurden, haben die entsprechenden Erlebnisse in literarischen Selbstzeugnissen festgehalten. Ihr Schreiben trägt dazu bei, diese Erfahrungen ins eigene Leben zu integrieren und sie darüber hinaus gesellschaftlich wirksam zu machen.

Verlorene Herkunft in Autobiografien

Im Brennpunkt der Texte von Autorinnen und Autoren jenischer Herkunft steht vorwiegend die Aktion «Kinder der Landstrasse»: Dargestellt werden eigens erlebte Kindswegnahmen, Zwangserziehung bei Pflegeeltern und in Heimen sowie Einweisungen in psychiatrische Kliniken und Strafanstalten. Mariella Mehr (*1947) machte zu Beginn der 1980er Jahre den Auftakt, indem sie mit verschiedenen Büchern öffentlich in Erscheinung trat. Graziella Wenger (*1936) veröffentlichte in den 1990er Jahren mehrere Ringbücher, darunter ihre Jugenderinnerungen Zerschlagene Räder. 1995 folgte die Jugendgeschichte Die Kellerkinder von Nivagl (1995) von Jeanette Nussbaumer (*1947), und schliesslich hat Peter Paul Moser (1926–2003) in seinen letzten Lebensjahren eine dreibändige, über 1000-seitige Autobiografie herausgebracht. Mit Ausnahme von Jeanette Nussbaumer wurden alle im frühesten Kindesalter von ihren Müttern getrennt. Mariella Mehr gehört bereits zur zweiten Generation der von der Pro Juventute erfassten jenischen Kinder.

Nivaigl

Versöhnung und Kritik

Mariella Mehr und Graziella Wenger gehen in ihren Texten vom gewaltsamen Entzug familiärer Herkunft und Zugehörigkeit aus. Wenger löst sich dabei vom konkreten historischen Kontext ab. In ihren zeitlos angelegten Jenischen Geschichten und Märchen (1990) entwirft sie mythisierende positive Stereotype des Jenischen und auf märchenhafte Weise Bilder einer gesellschaftlichen Versöhnung, etwa wenn der König, der dem fahrenden Volk mit Gewalt begegnete, am Schluss seines Lebens seine Schuld eingesteht. Im Gegensatz dazu übt Mariella Mehr anhaltend scharfe Kritik an Behörden, Einzelpersonen und gesellschaftlichen Strukturen.

Mariella Mehr

Als eigentliche Schriftstellerin ist von den erwähnten Autorinnen und Autoren einzig Mariella Mehr zu bezeichnen. Seit den 1980er Jahren hat sie kontinuierlich Romane, Lyrik und Theaterstücke publiziert und mit diesen bereits früh im Literaturbetrieb Fuss gefasst. Ihr Debut gab sie 1981 mit dem Roman steinzeit, der Stationen ihrer Heim- und Klinikaufenthalte thematisiert. 1987 erschien das Buch Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen, in dem die Autorin u.a. ihre Pro-Juventute-Akte inszeniert und Denkmuster aufdeckt, die dem Hilfswerk zugrunde lagen. Im Laufe der Jahre folgten etliche weitere Romane, in denen Mehr ihre Arbeit am Topos der Gewalt auch auf andere kulturgeschichtliche Gebiete ausdehnte. Einen literarischen Höhepunkt stellt der Roman Zeus (1994) dar, in dem sie Psychiatriekritik auf hochinteressante Weise mit Kritik am Mythos verbindet. – Mit ihrem unentwegten literarischen und politischen Einsatz hat Mariella Mehr nicht nur zahlreiche Literaturpreise erworben, sondern auch den Ruf einer unbeugsamen Kritikerin des Establishments. 1998 erhielt sie von der Universität Basel für ihr schriftstellerisches Engagement den Ehrendoktor.

Autobiografie als Integrationsmedium

Die Autobiografie trägt zur Entwicklung und Festigung des Selbstverständnisses bei und ist ein wichtiger Motor für emanzipatorische Bestrebungen. Sie ermöglicht es, Erfahrungen zu formulieren und zu kommunizieren. In solchem Kontext sind auch die frühen Werke von Albert Minder zu sehen: Sie bezeugen die über Jahrzehnte andauernde Gewalt gegen Jenische in der Schweiz, tragen dazu bei, diese Erfahrung ins eigene Leben zu integrieren, sie innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu konturieren und sie darüber hinaus, wenn auch in beschränktem Mass, gesellschaftlich sicht- und nachvollziehbar zu machen.